Leseprobe: Der Traum vom Feuer – I Vergessen
Mit einem harten Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Gemächlich rollte er aus dem Wiener Kopfbahnhof hinaus, rumpelte gewollt streng den Gleisen folgend, langsam genug um in den Kurven unangenehm zu quietschen. Nur ich besetzte einen der sechs rotgrau gepolsterten Plätze im Abteil. Ich war froh darüber, gönnte mir noch einen langen Blick über die ehemalige KuK-Metropole, die immer schneller vorbeifliegenden Gebäude und Straßen, bis diese zu einem einzigen bunten Flitzebrei wurden. Ein Mus meiner Gedanken. Das Herz pochte bis zum Hals, jede Kontraktion schnürte die Kehle ab, jede Atemnot beschleunigte den Lebensmuskel noch weiter. Durchatmen. Endlich alleine. Nur mit Mühe konnte ich meinen Puls auf ein erträgliches Maß senken. Endlich Ruhe, zur Ruhe kommen. Nichts wünschte ich mir länger als das, nichts hatte ich in den letzten Woche und Monaten mehr vermisst. Ich wollte einfach nur noch weg von hier, diesem Ort mit seinem immergleichen Trott, der gerade mehr und mehr verschwamm zu einem einzigen homogenene grauen Klumpen aus Beton, Glas und Unbehagen.
Wann mir das klar wurde? Als der Kaffee in den braunen, geriffelten Plastikbecher lief. Man schob seine gelbe Geldchipkarte in den Automaten, wählte aus vierzehn vorgefertigten Produkten „mit Verwöhngarantie“ immer das gleiche einförmige aus, wartete, den Becher in die Halterung fallen zu sehen. Aus den Tiefen des metallenen Schranks mit den neongleißenden Werbebotschaften für einen perfekt dampfendduftenden Kaffees in schicker Tasse drang das typische und immergleiche Schlürfen, gefolgt vom Rotzen und Spucken, das so höhnisch konträr zu den visuellen Eindrücken wirkte. Statt einer Tasse voll aromatischen Duft „mit Verwöhngarantie“ gab es nur einen Becher mit brauner Soße. Ich wusste nicht was abstoßender war, der Kaffeeersatz, echt bio und fair gehandelt, oder die einfüllsame Art des Automaten.
Verabscheungswürdig. Seit zwei Jahren erledigte ich immer den gleichen Job in der Firma. Jeden Tag. Um 0630 klingelt der Wecker, unermüdlich, grausam, der Sklaventreiber des Fortschritts, riss mich aus meinen sechs Stunden Schlaf und tickte selbst unbetrübt weiter. Der Weg ins Badezimmer. Der Blick in den Spiegel. Die rotumrandeten Augen eines fünzigjährigen starrten zurück, umlegt von dunkle Furchen, blutunterlaufen. Bartstoppeln bedeckten die untere Gesichtshälfte. Jeden Tag. Rote Augen, schwerer Blick, dunkle Stoppeln. Die Brühe hörte auf zu tröpfeln. Ich war gerade neunundzwanzig. Ich ließ den Becher im Automaten zurück. Beide Händen warfen Wasser in die Augen, aber das Brennen wollte und wollte nicht verschwinden, wie es jeden Morgen nicht fortging und sich den ganzen Tag hindurch fraß, immer tiefer, das Gehirn immer länger lähmend, schmerzend, fraß sich durch die Augenhöhlen und hinterließen diesen leeren, abgestorbenen Blick.
Tränende ausgebrannte rötlich schimmernde Augäpfel, unterschiedlich groß. Das Wasser lief zusammen mit den Bartresten die graue Designerkeramikschale in den Abfluss hinab, das Brennen aber wollte sich nicht lösen. Den Rasierer in seine Halterung rechts des Beckens zurückgelegt. Die Füße trugen mich in die kleine Küche, schlurften automatisiert den Boden entlang, an der Wand weiße Fließen, ein Streifen dunkelroter, dazwischen farblich passend abgemischte Fugenmasse. Ein weißlackierter Holztisch ohne Tischdecke, die Süddeutsche von gestern ruhte darauf, ungelesen. Ich hatte keine Zeit mehr dafür, und schon gar nicht für die Nachrichten von gestern. Sie landeten auf dem Altpapierstapel aus Zeitungen, Spiegeln und alten Pizza-Schachteln, die ihre Krümel um den Haufen geworfen hatte, ein Nachrichtenvulkan aus Papier mit Asche aus schwarzverbrannten Teigresten und goldgelben Krümeln, die unter den Socken kleben blieben. Meine Hand öffnete die Senseo Kaffeemaschine und ich stand vor dem Regal mit Kaffeepads in Kaffeepad-Dosen mit anspruchsvollem Design. Vorgefertigte Geschmackserlebnisse, gepresst in kleine Formen, portioniert.
Was wollte ich heute? Ich konnte mich nicht mehr entscheiden, wollte mich nicht mehr entscheiden können. Auf den Verpackungen immer das gleiche Bild der selben duftenden Tasse. Noch nie hatte ich Duft in einer so perfekten vertikalen Kosinusform, der Adobe Photoshop Pinselform 14, aufsteigen sehen wie auf diesen Bildern, auch heute nicht. Es gab überhaupt keinen sehbaren Duft.
Vierzig Sekunden später würde ich das Hochlandaroma in Kombination mit zwei Parazetamols hinunterwürgen. Nur so entwickelte es die vorgesehene Wirkung eines Fittmachers. Jeden Morgen das immergleiche Ritual. Und wieder verbrannte ich mir die Kehle, denn es blieb keine Zeit. Um 0730, nach einer halben Stunde grausamen Verkehrsstaus im und mit dem öffentlichen Nahverkehr, erreichte ich endlich die Firma. Blickte wieder in den sich langsam verfärbenden Spätwinterhimmel, der einen neuen Tag bedeutete, und der mit jedem Schritt hinter dem wachsenden grauen Gebäudekomplex mit seinen tausend höhnisch blickenden Glasscheibenaugen verschwand. Die Uhr tickte, ich war bereits wieder zu spät. Die Drehtür verschluckte mich wieder, im Gleichschritt mit den anderen Arbeitern Schrägstrich Kollegen um mich herum. Ich war der Statist Nummer 7 bei Fritz Langs Fahrstuhlszene, der dritte von Rechts.
All dies ging mir gerade durch den Kopf, ein Tag, viele Tage, und immer war er gleich, verging so, wurde mit mir älter und älter. Ich war die fortlaufende Nummer der Süddeutschen. Immer hasteten die gleichen Leute vorbei, immer die gleiche Arbeit, die gleichen Aufträge, die gleichen Abläufe und Vorgänge.
Nur diesmal nicht.
Der Morgen war schon spät geworden. Ich ließ den kaffeebraunen Becher im Automaten stehen. Einfach so. Starrte ihn einen Wimpernschlag lang an, bevor ich mich umwandte und den langen Gang entlang ging, hinaus durch die sich jetzt viel zu langsam rotierende Drehtür hinein in die Straßenbahn. Blickte nicht zurück. Vielleicht ging ich auch gar nicht, sondern rannte mehr durch die sich in Zeitlupe drehenden Rotiertür. Vielleicht flogen meine Füße auch über den roten Teppich, vorbei an den halbhoch nußholzvertäfelten Wänden. Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich rannte in die Straßenbahn. Wenn ich ein Gefühl für Drama hätte, wäre ich gerannt, glaube ich.